“Der Himmel hat von sich aus keine Ordnung des Vorne und des Hinten”

Shi Tao 石濤 1642-c. 1707): Der Wasserfall Mingxianquan und der Berg Hutouyan 鳴絃泉 虎頭岩; aus dem Album Acht Sehenswürdigkeiten des Berges Huangshan 黄山八勝画冊,
Tusche und Farbe auf Papier, 20 x 26 cm, Sen-oku Hakuko Kan (Sumitomo Collection), Kyoto.

Begriffsgeschichtliche Studien zur Herausbildung der Kategorie des Raumlichen in chinesischen Texten des 17. Jahrhunderts.


Im China des 17. Jahrhunderts, in der Zeit des Übergangs zwischen der Ming- (1368–1644) und Qing- (1644–1911) Dynastie, vollzog sich, einhergehend mit sozialen, politischen und ökonomischen Umbrüchen, eine einschnei- dende epistemologische Wende. Die Neuorientierung des Erkenntnisprozesses in dieser Übergangsperiode – so ein dominantes Narrativ der Forschung – resultierte in einer allmählichen Abkehr von der spekulativ-reflexiven Erörterung kosmologisch-moralischer Schemen hin zur Produktion von nachprüfbaren Wissen. Wesentliche Parameter dieser Wende lassen sich an einer Veränderung von Beschreibungen ablesen, wie der Raum bzw. das Räumliche gedacht wurden. Im Verlauf der epistemologischen Neuausrichtung bildeten sich nämlich erst allmählich jene Begriffe aus, welche das semantische Feld des Räumlichen abstecken und in einem gewissen Sinn erstmals konstituieren sollten. Das Resultat dieser Entwicklung stellt zweifellos eine Art Paradigmenwechsel dar.
Das Projekt unternimmt den Versuch, die Ausgangslage vor bzw. den Umschlag während dieser Wende begriffsgeschichtlich einzukreisen: Welche Raumvorstellungen waren in welcher Form vor der Wende präsent, welche Grenzen und Relevanz hat die Anwendung von heute zur Verfügung stehenden Raum- begriffen, auf das chinesische Wissenssystem vor der Wende? Im Unterschied zur vergleichsweise einfach zu er- schliessenden Geschichte des Raumbegriffs nach der epistemologischen Wende sind Raumvorstellungen, ja selbst Rahmen und Inhalt eines Diskurses über den Raum vor der Wende viel schwieriger zu bestimmen. Denn es trifft wohl Folgendes zu: In der Zeit vor der Wende manifestierten sich nicht nur solche taxonomische Ordnungen, bei welchen mögliche “räumliche” Komponenten des als “wirklich” Gedachten gerade nicht unter einer einheitlichen Kategorie “Raum” zusammengeführt wurden, sondern auch allgemeiner solche Auffassungen von “Prinzipien des Lebens”, die nicht primär durch das Räumliche bestimmt waren. Kurzum: Es waren noch weithin solche Erkenntnisstrategien wirkmächtig, die sich nicht primär räumlicher Kategorien bedienten.
Dass Raum also kulturell mitbedingt ist, ist die Hypothese dieses Projekts – nämlich insofern, als, einerseits, ohne die Annahme einer kulturellen Bedingtheit von Raumerfahrung die Analyse der Raumkategorie in chinesischen Texten des 17. Jahrhunderts gar nicht erst sinnvollerweise hätte begonnen werden können und als, anderseits, der Vollzug dieser Analyse ein Geflecht von Begriffen, Wahrnehmungsmustern und Gedanken freilegen konnte, das nicht nur eine andere Auffassung von Raum wiedergibt, sondern auch „Wirklichkeit“ anders konturiert und gliedert. Denn wo in der europäischen Wissensgeschichte und Erkenntnistheorie das Räumliche extrahiert und zum Konzept gemacht worden war, standen im chinesischen Wissenssystem Zusammenhänge, die zur Ausbildung anderer, prima facie nicht-räumlicher Bezeichnungen und Begriffsbildungen für Wahrnehmungen und Qualitäten führten.
Für die in dieser Arbeit unternommene Analyse ist es also hilfreich, vorab eine erkenntnistheoretische Orientierung hinsichtlich der Konstellation zu gewinnen, im welchem das Räumliche in der europäischen Wissensgeschichte und Erkenntnistheorie konzeptualisiert worden ist. Zugleich ist es wichtig, anhand von Beispielen aus der chinesischen Tradition, einige alternative Positionen in den Blick zu nehmen, welche universelle Gültigkeitsansprüche von Positionen der europäischen Wissensgeschichte und Erkenntnistheorie kontrastieren.
Aus dem naturgemäss umfangreichen potentiellen Textmaterial zur Raumproblematik wurden als Ansatzpunkte für die Bestimmung des Räumlichen insbesondere solche Quellen ausgewählt, die man aus der Perspektive der europäischen Tradition als “ästhetische” bezeichnen müsste. Vielversprechend für eine Erforschung der Kategorie des Räumlichen erscheinen insbesondere Texte von chinesischen Gelehrten des 17. Jhs., da sie sowohl detaillierte Angaben zur Bildgestaltung (Methoden und Techniken) als auch vielfältige wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Reflexionen enthalten. Zudem verweisen diese Texte bzw. ihre Begrifflichkeit auf spezifisch pragmatische Aspekte, wie mit dem Räumlichen bzw. mit räumlichen „Werten“ operiert wurde, bevor ein explizit formuliertes Raumkonzept entstanden war.
Die auf die Erfassung der epistemologischen Voraussetzungen zielende Interpretation der raumbezogenen Begrifflichkeit in den chinesischen ästhetischen Texten bildet die Grundlage für einen vergleichenden Ansatz mit bildgestalterischen Traditionen in Europa, insbesondere mit dem für sie zentralen Raumbegriff. In hermeneutischer Rückwendung dieser vergleichenden Perspektive wird sodann das resultierende Raumverständnis in den chinesischen Texten näher bestimmt. Somit soll ein Instrumentarium entwickelt werden, das sowohl durch Strukturierung indigener Wissensbestände als auch durch Kontrastierung mit exogenen Raumbegriffen ein kritisches Verständnis der chinesischen Gelehrtendiskurse und bildgestalterischen Reflexionen ermöglicht.